Chemi Shalev berichtet seit 25 Jahren über Israel und den israelisch-palästinensischen Konflikt. Er arbeitete für die Zeitungen Jerusalem Post, Davar und Ma’ariv und arbeitet heute für die kostenlos erhältliche Zeitung Israel Hayom (Israel Heute).
Zu Beginn der Veranstaltung nannte Gadi Baltiansky, der Leiter des israelischen Büros der Genfer Initiative die Zahlen der jüngsten Umfrage der Genfer Initiative:
Danach antworteten auf die Frage, was die nächste israelische Regierung tun soll:
- Ein Abkommen mit der palästinensischen Seite über einen dauerhaften Status verhandeln: 46%
- Mit Syrien verhandeln: 18%
- Beides: 21%
- Keins von beidem: 9%
Was soll die nächste Regierung hinsichtlich der Palästinenser tun?
- Verhandlungen über einen dauerhaften Status: 55%
- Verhandlungen über ein Zwischenabkommen: 16%
- Mit Hamas verhandeln: 10%
- Nichts von allem: 10%
- Keine Antwort: 8%
Bei der Frage, welche Parameter das Abkommen mit den Palästinensern haben soll, votierten 48 Prozent für den Parameter der Genfer Initiative, 29 Prozent waren dagegen.
Wird die Wahl von Barack Obama die Chancen auf die Chancen für eine Verhandlungslösung steigern?
- Ja: 23%
- Nein: 16%
- Egal: 39%
Sollen die USA ihr Engagement im Nahen Osten verstärken:
- Ja: 68%
- Nein: 28%
Sogar 40 Prozent der Befragten wünschten sich ein intensiveres Engagement der EU – und zwar während die israelische Militärintervention im Gazastreifen noch andauerte.
Chemi Shalev begann seinen Vortrag mit dem Hinweis auf eine Kontroverse mit Gadi Baltiansky über diese Zahlen ein. Er bestreite die Zahlen nicht, hat aber Fragen zu ihrer Relevanz. Er verwies auf den international oft gebrauchten Begriff „Friedensprozess“ und darauf, dass es für viele Israelis schon lange keinen Friedensprozess mehr gebe.
Nach Shalev ist die Mehrheit der Israelis erstaunt über das Ausmaß an Einigung und Entschlossenheit, das lange nicht mehr so groß war wie in der Zeit des Gazakrieges. Der Mangel an Selbstkritik sei überraschend.
Umfragen belegten, dass eine Mehrheit von Israelis mit dem Ergebnis des Krieges nicht zufrieden ist. Die Regierung hätte weiter gehen sollen und Hamas zerschlagen bzw. den entführten israelischen Soldaten Gilad Shalit befreien sollen.
Für die Zukunft wird es nach Shalev entscheidend sein, ob weitere Raketen auf Israel abgeschossen würden. Wer Benjamin Netanyahu an der Regierung haben wolle, müsse nur rechtzeitig vor der Wahl einige Raketen in Richtung Israel abschießen.
Chemi Shalev sieht folgende Gründe für die Einheit in der israelischen Bevölkerung:
- Es sei gegen Hamas gegangen. Hamas stehe für die Israelis für die Nichtanerkennung Israels, für Selbstmordattentate und die enge Verbindung mit dem Iran.
- Israelis sehen sich angesichts des israelischen Rückzuges aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 im Recht.
- Israelis leben in dem Bewusstsein, dass in Camp David im Jahr die israelische Seite ein einmaliges Angebot machte, das von der palästinensischen Seite zurückgewiesen worden sei.
- Der anhaltende Raketenbeschuss von Südisrael aus dem Gazastreifen.
- Der zweite Libanon-Krieg von 2006. Obgleich inzwischen viele Beobachter Israel als Sieger dieses Krieges sähen, ist das Bild in großen Teilen der israelischen Öffentlichkeit ein anderes.
Die israelische Bevölkerung hat sich nach Shalev bislang nicht von dem Trauma der Selbstmordattentate während der zweiten Intifada erholt. Dies habe zu einer Unempfindlichkeit gegenüber den Leiden der anderen Seite geführt.
Shalev sieht seit dem Oslo-Prozess 1993 drei Phasen:
- 1993 – 2000: Friedensprozess
- 2000 – 2006: Zeit des Unilateralismus (Rückzug aus dem Libanon 2000; Bau der Sicherheitsbarriere ab 2002; Rückzug aus dem Gazastreifen 2005).
- 2006 – heute: Durch den zweiten Libanon-Krieg sei der Unilateralismus zum Ende gekommen. Heute sei man weder hier noch dort: Die Verhandlungen von Olmert und Livni mit der Palästinensischen Autonomiebehörde interessiere die israelische Öffentlichkeit nicht. Es sei schwer, die israelische Haltung zum Friedensprozess zu bestimmen. Die Mischung aus einem neuen Ministerpräsidenten, einer entsprechenden öffentlichen Atmosphäre und des neuen US-amerikanischen Präsidenten könnte zu einer neuen Haltung führen.
Bis zu den Wahlen zum israelischen Parlament sind es noch drei Wochen. Das ist für israelische Verhältnisse eine lange Zeit, in der viel passieren kann. Wenn nicht noch Überraschungen (wie etwa eine Freilassung von Gilad Shalit) passieren, werde der Wahlsieger aber voraussichtlich Benjamin Netanjahu heißen. Die Arbeitspartei habe die Anzahl ihrer Sitze durch den Krieg laut Umfragen von zwischen 7-10 auf 16-17 Sitze verbessert. Livni verliere an Schwung und Kadima schwächele.
Avigdor Lieberman, den Vorsitzenden der rechtsnationalistischen Yisrael Beteinu Partei werde man genau beobachten müssen. Er habe laut Umfragen durch den Krieg bis auf 15 Sitze zugelegt. Außerdem rede er, was er denke und drücke aus, was viele Israelis denken. Außerdem sei er ein unkonventioneller Politiker, der im Gegensatz zum Likud zur Rückgabe von Gebieten bereit sei und zudem eine zivile, nicht-religiöse Agenda habe.
Im Gegensatz zu anderen Journalisten glaubt Shalev nicht, dass Likud und Arbeitspartei nach den Wahlen ohne Kadima zusammengehen werden in der Hoffnung, Kadima werde im Laufe der Legislaturperiode zerfallen.
Er rechne mit einer Koalition von Likud, Kadima und Arbeitspartei. Zusammen mit einem Präsidenten Obama könnte es zu Bewegung im Friedensprozess kommen, wie in den vergangenen acht Jahren nicht mehr. Viel werde dann davon abhängen, wie die öffentliche Meinung reagiert. Dabei könnten Gruppen wie der Genfer Initiative eine wichtige Rolle spielen. Das alles könne dazu führen, dass es eine sehr verärgerte politische Rechte gebe und so sei dann weiterhin für interessante Zeiten gesorgt.
Shalev geht davon aus, dass von einer Regierung Netanjahu keine Friedensinitiative ausgehen werde. Die Regierung werde aber eine US-amerikanische Initiative nicht einfach zurückweisen. Andererseits werde auch Obama keinen Streit mit Netanjahu haben wollen. Bei aller Skepsis werde man die Netanjahus Idee eines „ökonomischen Friedens“ nicht so leicht abtun können. Netanjahu habe dafür inzwischen die Zustimmung von Präsident Shimon Peres bekommen. Die USA würden möglicherweise versuchen, die Initiative aufzugreifen und sie in einen größeren Kontext einzubetten.
Jörn Böhme
Leiter des Israel-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung
Tel Aviv, 20.1.2009